Seit der Antike beschäftigen sich Philosophie und Theologie mit der Tugendlehre und seit ihrem Anbeginn die Abendländischen Bildenden Künste mit der Darstellung der Tugenden. Als die vier klassischen Grundtugenden, die sog. „Kardinaltugenden“,  gelten seit Platon die

folgenden Eigenschaften, die eine dem Guten zugewandte innere Haltung charakterisierenKlugheit oder Weisheit,GerechtigkeitTapferkeit und Mäßigung. Die vier Kardinaltugenden werden vom Christentum übernommen und ergänzen im katholischen Katechismus die drei göttlichen (theologischen) Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. 

 

Da diese ideellen Werte an sich nicht darstellbar sind, vergegenständlicht die Bildende Kunst die abstrakten Vorstellungsinhalte durch allegorische und symbolische Darstellungen. ....... Fast immer sind es weibliche Figuren, die nicht wirklich in eine Handlung eingebunden sind, sondern nur als Repräsentantin ihrer eigenen Bedeutung fungieren. Damit diese erkennbar ist, sind ihnen ganz bestimmte Gegenstände beigegeben, sog. „Attribute“, die nach allgemeiner Konvention fest mit der jeweiligen allegorischen Figur verknüpft sind und deren Deutung ermöglichen. So charakterisieren beispielsweise die Attribute Waage, Schwert und Augenbinde die Figur der Justitia und symbolisieren somit die Gerechtigkeit.

 

Ursula Bauer greift diesen kunsthistorisch fest verankerten Kanon in ihrem Werkzyklus auf und stellt die Tugenden auf zwei Arten und in zwei miteinander korrespondierenden Bildserien dar: zum einen in personifizierter Form, also als allegorische Figuren (<<) und zum anderen als symbolische Verbildlichung der Tugenden (>>), wobei die Attribute nun ohne die Figuren als stilllebenhafte Arrangements erscheinen.

 

In der ersten Serie zeigt Ursula Bauer sieben unbekleidete und halbbekleidete Frauengestalten, die sich durch begleitende Bildmotive als die sieben Tugenden auszeichnen:

 

Die Liebe (Caritas) in Gestalt einer Mutter mit Kind auf dem Arm, umgeben von Rosen und zwei Pelikanen, die als Symbole der Opferbereitschaft gelten.

Der Glaube (Fides) als weibliche Figur mit einem Kreuz und einem Kelch.

Die Hoffnung (Spes) als Steuerfrau am Lenkrad eines Schiffes 

Die Weisheit (Sapientia) als weiblicher Torso mit Schlange und Spiegel, dem Symbol der Selbsterkenntnis und der Erkenntnis.

Die Tapferkeit (Fortitudo), die hier als eine Art moderner Amazone erscheint.

Die Mäßigung (Temperantia) als Frau mit verschiedenen Gefäßen beim Mischen von Wein und Wasser sowie mit Sanduhr und Totenköpfen, die als Memento Mori an die Vergänglichkeit alles Irdischen gemahnen.

Schließlich die Gerechtigkeit (Justitia) mit verbundenen Augen auf der Weltkugel sitzend, flankiert von einer Waage im Gleichgewicht.

 

Als Allegorien verkörpern die Frauenfiguren allgemeine, überzeitliche Werte. Ursula Bauer zeigt sie deshalb typisiert, ohne individuelles Gesicht, von der Haltung her stark und selbstbewusst, aber immer ganz eingebunden in die Gesamtdarstellung. Sie erreicht dies durch einen splittrig gebrochenen Bildaufbau, in dem alle Bildgegenstände in einzelne farbige Flächensegmente zergliedert sind, ähnlich wie in einer Collage, einem Mosaik oder einem Kirchenfenster -  ein Gestaltungsmittel, das bekanntermaßen dem Kubismus entlehnt ist und das einer abstrahierenden Darstellung dient.*)

 

*) Nicole Nix-Hauck, Galeristin, Kunsthistorikerin